„Mae, when is a secret a good thing?“, fragt der Charakter Eamon Bailey die Protagonistin Mae Holland in Dave Eggers Roman «The Circle ». Bailey ist einer der drei Konzernchefs, die mit ihrer Internetfirma The Circle totale Transparenz in allen Lebensbereichen durchsetzen wollen. Dies soll mit Hilfe kleiner Kameras geschehen, die möglichst überall auf der Welt installiert und von Personen um den Hals getragen werden. Mae, die gerade ihren Traumjob beim Circle angetreten hat und aufgrund einer milden Straftat zum Gespräch geladen wurde, ist in Erklärungsnot. „When it can protect someone’s feelings“, schlägt sie vor. Ab diesem Punkt beginnt ein Frage und Antwort Spiel zwischen den beiden, bei dem Bailey darauf pocht, dass jedes Geheimnis zwischen Freunden oder innerhalb der Familie ein Vorenthalten von Informationen ist, auf die die andere Seite ein Anrecht hat. Er meint, dass Geheimnisse entweder dazu da sind, die eigene Position zu stärken oder aber ein Verhalten zu tarnen, auf das wir nicht stolz sind. Gleichzeitig merkt er an, dass Geheimnisse oft zu unrecht gehalten werden, da die Offenlegung der Information unserem Ruf gar nicht schaden würde. Im Geiste der heutigen Plattitüde argumentiert Bailey: Wer flüstert, tut entweder etwas Böses oder etwas völlig Unproblematisches. In beiden Fällen helfe Transparenz der Gesellschaft, da „die Bösen“ geschnappt und die Guten in ihrem Verhalten bestärkt werden können. Dem hat Mae nicht viel entgegenzusetzen, wodurch sie sich ab dem Ende des Gesprächs zögerlich zu einer ähnlichen Sicht auf die Dinge durchringt.
Eamon Bailey verkörpert den Glauben daran, dass wir bessere Versionen unserer Selbst werden, sobald wir unter Beobachtung stehen. Und die Möglichkeit eines jeden Bürgers, jeden anderen zu jeder Zeit durch Kameras beobachten zu können, ist sein erklärtes Ziel. Durch diese sehr demokratische Art der Überwachung könne ein Zustand maximaler Sicherheit erreicht werden, weil jedes kriminelle Verhalten schnellstens erkannt würde. Allerdings macht diese Weltsicht ein flaues Gefühl im Magen, denn instinktiv wehrt man sich gegen die Vorstellung, live aus dem eigenen Badezimmer zu streamen. Gleichzeitig ist es einleuchtend, dass die Kriminalitätsrate durch eine solch radikale Transparenz stark sinken würde. Doch der Preis dieser gewonnenen Sicherheit ist unsere Freiheit. Argumente gegen die Installation von Kameras in allen Sphären unseres Privatlebens sind deshalb schnell zur Hand. Die Privatsphäre in sich ist schützenswert, da wir uns so Raum für wahre persönliche Freiheit schaffen – fernab von den Augen unserer Mitmenschen. Bailey würde zwar jetzt sagen, dass man auch unter den Blicken der Welt noch jedes sozial akzeptierte Verhalten zeigen dürfte, doch hier würden seinen Argumenten die Puste ausgehen. Zum einen gibt es nicht eine Instanz, die „sozial akzeptiertes“ Verhalten definiert. Desweiteren würde ein abweichendes, wenn auch ungefährliches Verhalten, welches die breite Masse per Stream verfolgen könnte, wahrscheinlich eher zu Diffamierungskampagnen führen als zu einem gesellschaftlichen Dialog. Deshalb ist es aus meiner Sicht ein Irrglaube, dass man authentisches Verhalten zu sehen bekommt, wenn die Aufnahmen aus ehemals geschützten Sphären kommen. Mit dem menschlichen Verhalten ist es nämlich so wie mit den Elektronen in der Quantenphysik: Elektronen verhalten sich unter Beobachtung wie Teilchen, obwohl sie auch Wellen sein könnten. Der Mensch handelt unter Beobachtung gemäß den Erwartungen des Beobachters, obwohl theoretisch auch ein abweichendes Verhalten denkbar wäre. Beobachtung beeinflusst die Wirklichkeit. Was passiert aber nun, wenn eine Regierung der Beobachter ist? Nachdem Edward Snowden im Juni 2013 geheime NSA Dokumente veröffentlichte, die das ganze Ausmaß der amerikanischen Überwachungsmaschinerie aufzeigten, gerieten die Regierungen der USA und Großbritanniens in Panik. Beispielsweise wurde das erste Mal bewiesen, dass der britische Geheimdienst GCHQ die Möglichkeit hat, den Inhalt von Telefongesprächen mitzuschneiden und zum späteren Anhören zu speichern. Die USA versuchten alles, um die Explosivität der veröffentlichten Informationen zu entschärfen. Neben Denunziationen gegenüber Snowden und den Journalisten, die mit ihm zusammenarbeiteten, versuchte die Obama Regierung folgende Narrative zu verkaufen: Erstens, dass die Alternative zur Überwachung von Millionen Bürgern weltweit der Tod durch einen Terroranschlag sei. Zweitens, dass rechtschaffende Bürger ja gar nichts zu befürchten hätten. Nur „die Bösen“ würden durch eine flächendeckende Überwachung abgeschöpft wie Fettaugen auf der Gemüsebrühe. Diese Narrative gaukelt vor, dass Menschen einfach weitermachen würden wie vor der Enthüllung, dass sie potentiell überwacht werden. Wie eine Studie von Amnesty International zeigt, ist dem aber nicht so. Menschen sind zögerlicher, online nach Gesundheits- oder Beziehungsberatung zu suchen, wenn sie um ihr Überwachtwerden wissen. Obwohl die Menschen die ursprüngliche Rechtfertigung für umfassende Überwachungsmaßnahmen, den globalen Terrorismus, nicht mehr so sehr fürchteten wie noch in den Jahren nach den Anschlägen des 11. September, so zeigte die „Nur-die-Bösen“-Narrative Wirkung. „Ich habe nichts zu verbergen und mein Leben ist sowieso zu langweilig für die Geheimdienste“, hört man nach wie vor oft. Gleichzeitig sollte jeder sich kritisch hinterfragen, wie oft er beim Skype Chat, bei der Google Suche oder in einer Whatsapp Konversation seine Eingabe korrigiert oder zumindest darüber nachgedacht hat, ob er für seine Formulierung auf „irgendeiner Liste“ landet. Diese Frage ist es, mit der die intellektuelle Freiheit schon beschnitten ist. Interessanterweise mussten die Geheimdienste hierfür gar nichts tun. Das wissen um potentielle Überwachung allein sorgt für eine Selbstzensur im Sinne der vorherrschenden Meinung. Selbstverständlich gibt es Leute, die im Internet und im realen Leben grässliche Dinge mit ihrer Freiheit anstellen. Doch sollte das kein Grund sein, den Intellektuellen Spielraum der größtenteils aufrichtigen Menschen durch flächendeckende Beobachtung zu begrenzen. Wo in „The Circle“ die Politiker die ersten sind, die sich eine Kamera um den Hals schnallen, wären es in der realen Welt wahrscheinlich ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die ihre Privatsphäre als erstes und einziges verlieren würden. Dafür spricht beispielsweise, dass Facebook Gründer Mark Zuckerberg vier an sein Haus angrenzende Grundstücke gekauft hat, um den Blicken neugieriger Nachbarn zu entgehen. Gleichzeitig darf sich die NSA aber an Facebook-Nutzerdaten bedienen wie an einem All-you-can-eat Buffet. So egal, wie Herr Zuckerberg es in der Vergangenheit propagiert hat, kann die Privatsphäre also nicht sein.
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