Vielen Deutschen bereitet der Begriff der Leitkultur Unbehagen. Sie gäbe es nicht, und wenn es sie gäbe, dann gehöre sie abgeschafft. Ich werde versuchen zu zeigen, dass es bei der Suche nach der deutschen Leitkultur nicht darum geht, sich von unseren demokratischen Werten abzuwenden, sondern noch besser mit ihnen im Einklang zu leben. Dazu werde ich zeigen, dass eine Leitkultur immer schon existiert hat, sie für ein demokratisches Miteinander unerlässlich ist und Thema unserer öffentlichen Debatte sein sollte.
Viele Menschen halten das Konzept einer Leitkultur auch deshalb für unnötig, weil in unseren juristischen Texten ja schon alle wichtigen Richtlinien des gesellschaftlichen Miteinanders aufgelistet seien. Das Grundgesetz und überhaupt unsere Gesetzestexte sind jedoch nicht vom Himmel gefallen. Gerade ersteres hat die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zum Hintergrund. Es buchstabiert unsere gesellschaftlichen Ideale aus und ist doch allein zu wenig. Seine Bedeutung muss immer wieder nachvollzogen und im politischen Miteinander wachgehalten werden. Mit jedem Rechtsspruch des Bundesverfassungsgerichts und jeder kontroversen politischen Debatte erneuern wir unser Verständnis des Grundgesetzes. Dabei leiten uns vergangene Urteile und Argumente, besonders aber ein kulturell kodiertes Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit, ohne das es Gesetze in ihrer jetzigen Form gar nicht gäbe. Unsere rechtsstaatliche Ordnung wird von einem moralischen Mehrheitskonsens getragen, der vor allem geschriebenen Recht besteht. Er aber fußt auf einem feinstofflichen Gewebe aus kulturellen Übereinkünften. Ohne sie wäre das Grundgesetz nur ein Buch wie jedes andere. Warum eine Leitkultur existiert Kritiker weisen an dieser Stelle darauf hin, dass die Idee einer Mehrheitskultur die Wirklichkeit des heutigen Deutschlands nicht richtig beschreibe. Vielmehr hätten wir es mit einer in Milieus zersplitterten Gesellschaft zu tun. Die Lebensrealitäten, so das Argument, überschneiden sich nur noch innerhalb eines Milieus. Viele Bürger seien durch sozioökonomische Ungleichheiten derart voneinander getrennt, dass der Griff nach einer Leitkultur ins Leere gehen müsse. Gegen dieses Argument lässt sich zweierlei anführen. Zum einen ist die Akzeptanz hermetisch gegeneinander abgeriegelter Milieus eine gefährliche Grundlage für den Fortbestand der Demokratie. Diesen Punkt erläutere ich im nächsten Abschnitt. Zum anderen findet man verbindende kulturelle Kräfte, die auf alle Milieus wirken. Deutsch als Alltagssprache und die allgemeingültigen Gesetze formen unser gesellschaftliches Fundament. Eine Leitkultur wird von diesen beiden Kräften jedoch nur vorbereitet. Ihre Substanz verdankt sie den vielen „weichen“ Faktoren des Miteinanders. Den kleinen und großen Interaktionen zwischen Menschen, den Anekdoten, Sprechweisen und Symbolen. Man denke an die vielen Stammtischgespräche über Verkehrsdelikte. Egal, ob Falschparken oder „Abgeschleppt-Werden“: Um das Auto eines Deutschen ranken sich Erzählungen und Erinnerungen. Man denke weiterhin an die Bild-Zeitungen, die in S- und U-Bahnen herumliegen und unabhängig vom Bildungsgrad gelesen werden. Man denke an die deutschen Fußgängerzonen, in denen sich alle sozialen Milieus über den Weg laufen. Man denke an Tagesschau und Bundesliga, Grillwürstchen und Mallorca, Autobahnschilder und Windkrafträder. In diesen Dingen erkennen sich die Bankangestellte und der Kfz-Mechaniker, der Gemüsehändler und die Friseurin, der Kindergärtner und der Bauarbeiter. Eine Leitkultur wird nicht „von oben“ festgelegt. Sie ist kein Gesetz, das die Bundesregierung erlässt. Deshalb ist sie ein für Machtmissbrauch unpassendes Medium. Die Leitkultur ist einfach. Sie geht aus den Myriaden von Interaktionen zwischen Individuen hervor, entspricht am Ende keiner einzelnen apriorischen Vorstellung von ihr. Sie schwebt über jedem und kann von jedem beeinflusst werden. Es ist nicht an uns, über die Existenz einer Leitkultur zu bestimmen. Wir besitzen sie schon. Jeden Tag leben wir eine von zig möglichen Versionen unseres Lebens, orientieren uns dabei an unserem Umfeld und stehen trotzdem in Kontakt mit der breiten Masse unserer Mitbürger, die ähnliche Erfahrungen machen wie wir. In den Wünschen, Werten und Zielen anderer Deutscher erkennen wir uns wieder. Zu diesen Gemeinsamkeiten sollten wir uns bekennen, statt sie in Abrede zu stellen. Warum eine Leitkultur demokratisch ist Nun mag man das Konzept einer Leitkultur nicht vollends aus der Luft gegriffen oder sogar plausibel finden. Doch trotzdem werden viele mit Sorge darauf blicken, dass die genannten Umgangsformen gerade auch Nonkonformisten beeinflussen. Eine Mehrheitskultur, so lautet das Argument, sei deshalb nicht gut, weil sie Assimilationsdruck auf Minderheitenkulturen ausübe. Darin äußere sich jedoch ein Anspruch auf kulturelle Homogenität, der vor unserem geschichtlichen Hintergrund gefährlich scheint. Meiner Ansicht nach müssen wir uns aber zwischen demokratischer Beteiligung aller und der Garantie auf intakte Subkulturen entscheiden. Denn wenn in unserem Land etwas demokratisch entschieden wird, dann setzt das voraus, dass vorher darüber gesprochen wurde. Das demokratische Ideal geht davon aus, dass eine Entscheidung umso besser wird, je mehr Stimmen sich an der vorausliegenden Deliberation beteiligt haben. Je weiter das Spektrum an eingeholten Erfahrungen und Hintergründen, desto wohlinformierter ist die Entscheidung. Wenn wir eine wahrlich moderne, pluralistische Demokratie sein wollen, dann bleibt nicht aus, dass Standpunkte aus kulturellen Minderheiten mit denen aus der Mehrheitskultur in Berührung kommen. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Anschauungen der Diskursteilnehmer ändern. Doch das gilt nicht nur für gesellschaftliche Minderheiten! Vielmehr ist der Austausch als ein gegenseitiger Lernprozess zu verstehen, bei dem sich auch die Leitkultur verändert. Doch allein der Gedanke, Einwanderer mit der vorherrschenden Leitkultur zu konfrontieren, erscheint manchen als nicht auszuhaltender Ausdruck eurozentrischer Arroganz. Zu Unrecht, wie ich finde. Arrogant wäre es, eine Kenntnis der fremden Kultur vorzutäuschen, indem man sie im Voraus für gut befindet. Nichts schadet der Integration mehr! Dann muss jeder Kontakt zwischen gesellschaftlichen Minderheiten und der Mehrheit verhindert werden, um niemanden zu desillusionieren. So manifestieren sich gerade die Milieus, von denen Kritiker der Leitkultur so gerne sprechen. Die Fragmentierung der Gesellschaft wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wie wir über eine Leitkultur sprechen müssen Wenn man die Existenz einer Leitkultur akzeptiert und ihre Nützlichkeit für die Integration und die Demokratie anerkennt, bleibt ein letzter Vorbehalt. Der letzte Abschnitt setzt voraus, dass in einem Aufeinanderprallen der kulturellen Praktiken Kritik aneinander nötig sein wird. Das bedeutet, von zahlenmäßig unterlegenen Gruppen infrage gestellt zu werden und selbst Fremdes infrage zu stellen. Aus historischen Gründen sind wir Deutschen darin nicht gut. Sind die kulturellen Wertvorstellungen von Einwanderern nicht untrennbar an ihre Identität geknüpft? Kritisiert man nicht immer auch die Person, wenn man ihre Kultur kritisiert? Und besonders heikel: Darf man eine andere Kultur als „schlechter“ und eben nicht nur als „anders“ empfinden? Die Bewertung kultureller Praktiken ist eine unbedingte Voraussetzung für den ehrlichen Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden. Nur so entsteht ein freier Austausch von kulturellen Ideen, der gesellschaftlichen Fortschritt bringt. Auch unsere Kultur spiegelt oft nicht unsere Ideale wider. Doch ohne Kritik wären das Frauenwahlrecht, die Sanktionierung von Vergewaltigung in der Ehe und die Gleichstellung von Homosexuellen niemals verwirklicht worden. Jeder dieser Fortschritte ließ den „schlechten“ Status quo hinter sich, entwickelte die herrschende Leitkultur weiter und stellte die auf Dominanz basierenden Identitäten „weißer, heterosexueller Männer“ infrage. Wir dürfen vor Werturteilen nicht zurückschrecken und wir müssen nicht jede fremde Kulturpraxis gut finden. Vielmehr ist das Leben in einer liberal-demokratischen Gesellschaft mit Risiken behaftet: Ideen haben hier keine Überlebensgarantie. Sie müssen erst ihren Nutzen für unser Miteinander unter Beweis stellen. Anders als oft propagiert wird, ist ein Werturteil über kulturelle Leitmotive mit einer allgemeinen und gleichen Menschenwürde vereinbar. Wenn wir zu unserer Leitkultur stehen und gleichzeitig nicht über Ethnien und Rassen urteilen, dann beweisen wir als Gesellschaft bewundernswerte Aufgeklärtheit. Vielleicht geht allein daraus eine neue Leitkultur hervor, die uns Deutschen besser behagt und auf die wir vielleicht sogar stolz sind. Diesen Text habe ich beim Essaywettbewerb der Deutschen Gesellschaft e.V. im Jahr 2017 eingereicht und den 1. Platz belegt.
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