Vielen Deutschen bereitet der Begriff der Leitkultur Unbehagen. Sie gäbe es nicht, und wenn es sie gäbe, dann gehöre sie abgeschafft. Ich werde versuchen zu zeigen, dass es bei der Suche nach der deutschen Leitkultur nicht darum geht, sich von unseren demokratischen Werten abzuwenden, sondern noch besser mit ihnen im Einklang zu leben. Dazu werde ich zeigen, dass eine Leitkultur immer schon existiert hat, sie für ein demokratisches Miteinander unerlässlich ist und Thema unserer öffentlichen Debatte sein sollte.
Viele Menschen halten das Konzept einer Leitkultur auch deshalb für unnötig, weil in unseren juristischen Texten ja schon alle wichtigen Richtlinien des gesellschaftlichen Miteinanders aufgelistet seien. Das Grundgesetz und überhaupt unsere Gesetzestexte sind jedoch nicht vom Himmel gefallen. Gerade ersteres hat die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zum Hintergrund. Es buchstabiert unsere gesellschaftlichen Ideale aus und ist doch allein zu wenig. Seine Bedeutung muss immer wieder nachvollzogen und im politischen Miteinander wachgehalten werden. Mit jedem Rechtsspruch des Bundesverfassungsgerichts und jeder kontroversen politischen Debatte erneuern wir unser Verständnis des Grundgesetzes. Dabei leiten uns vergangene Urteile und Argumente, besonders aber ein kulturell kodiertes Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit, ohne das es Gesetze in ihrer jetzigen Form gar nicht gäbe. Unsere rechtsstaatliche Ordnung wird von einem moralischen Mehrheitskonsens getragen, der vor allem geschriebenen Recht besteht. Er aber fußt auf einem feinstofflichen Gewebe aus kulturellen Übereinkünften. Ohne sie wäre das Grundgesetz nur ein Buch wie jedes andere. Warum eine Leitkultur existiert Kritiker weisen an dieser Stelle darauf hin, dass die Idee einer Mehrheitskultur die Wirklichkeit des heutigen Deutschlands nicht richtig beschreibe. Vielmehr hätten wir es mit einer in Milieus zersplitterten Gesellschaft zu tun. Die Lebensrealitäten, so das Argument, überschneiden sich nur noch innerhalb eines Milieus. Viele Bürger seien durch sozioökonomische Ungleichheiten derart voneinander getrennt, dass der Griff nach einer Leitkultur ins Leere gehen müsse. Gegen dieses Argument lässt sich zweierlei anführen. Zum einen ist die Akzeptanz hermetisch gegeneinander abgeriegelter Milieus eine gefährliche Grundlage für den Fortbestand der Demokratie. Diesen Punkt erläutere ich im nächsten Abschnitt. Zum anderen findet man verbindende kulturelle Kräfte, die auf alle Milieus wirken. Deutsch als Alltagssprache und die allgemeingültigen Gesetze formen unser gesellschaftliches Fundament. Eine Leitkultur wird von diesen beiden Kräften jedoch nur vorbereitet. Ihre Substanz verdankt sie den vielen „weichen“ Faktoren des Miteinanders. Den kleinen und großen Interaktionen zwischen Menschen, den Anekdoten, Sprechweisen und Symbolen. Man denke an die vielen Stammtischgespräche über Verkehrsdelikte. Egal, ob Falschparken oder „Abgeschleppt-Werden“: Um das Auto eines Deutschen ranken sich Erzählungen und Erinnerungen. Man denke weiterhin an die Bild-Zeitungen, die in S- und U-Bahnen herumliegen und unabhängig vom Bildungsgrad gelesen werden. Man denke an die deutschen Fußgängerzonen, in denen sich alle sozialen Milieus über den Weg laufen. Man denke an Tagesschau und Bundesliga, Grillwürstchen und Mallorca, Autobahnschilder und Windkrafträder. In diesen Dingen erkennen sich die Bankangestellte und der Kfz-Mechaniker, der Gemüsehändler und die Friseurin, der Kindergärtner und der Bauarbeiter. Eine Leitkultur wird nicht „von oben“ festgelegt. Sie ist kein Gesetz, das die Bundesregierung erlässt. Deshalb ist sie ein für Machtmissbrauch unpassendes Medium. Die Leitkultur ist einfach. Sie geht aus den Myriaden von Interaktionen zwischen Individuen hervor, entspricht am Ende keiner einzelnen apriorischen Vorstellung von ihr. Sie schwebt über jedem und kann von jedem beeinflusst werden. Es ist nicht an uns, über die Existenz einer Leitkultur zu bestimmen. Wir besitzen sie schon. Jeden Tag leben wir eine von zig möglichen Versionen unseres Lebens, orientieren uns dabei an unserem Umfeld und stehen trotzdem in Kontakt mit der breiten Masse unserer Mitbürger, die ähnliche Erfahrungen machen wie wir. In den Wünschen, Werten und Zielen anderer Deutscher erkennen wir uns wieder. Zu diesen Gemeinsamkeiten sollten wir uns bekennen, statt sie in Abrede zu stellen. Warum eine Leitkultur demokratisch ist Nun mag man das Konzept einer Leitkultur nicht vollends aus der Luft gegriffen oder sogar plausibel finden. Doch trotzdem werden viele mit Sorge darauf blicken, dass die genannten Umgangsformen gerade auch Nonkonformisten beeinflussen. Eine Mehrheitskultur, so lautet das Argument, sei deshalb nicht gut, weil sie Assimilationsdruck auf Minderheitenkulturen ausübe. Darin äußere sich jedoch ein Anspruch auf kulturelle Homogenität, der vor unserem geschichtlichen Hintergrund gefährlich scheint. Meiner Ansicht nach müssen wir uns aber zwischen demokratischer Beteiligung aller und der Garantie auf intakte Subkulturen entscheiden. Denn wenn in unserem Land etwas demokratisch entschieden wird, dann setzt das voraus, dass vorher darüber gesprochen wurde. Das demokratische Ideal geht davon aus, dass eine Entscheidung umso besser wird, je mehr Stimmen sich an der vorausliegenden Deliberation beteiligt haben. Je weiter das Spektrum an eingeholten Erfahrungen und Hintergründen, desto wohlinformierter ist die Entscheidung. Wenn wir eine wahrlich moderne, pluralistische Demokratie sein wollen, dann bleibt nicht aus, dass Standpunkte aus kulturellen Minderheiten mit denen aus der Mehrheitskultur in Berührung kommen. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Anschauungen der Diskursteilnehmer ändern. Doch das gilt nicht nur für gesellschaftliche Minderheiten! Vielmehr ist der Austausch als ein gegenseitiger Lernprozess zu verstehen, bei dem sich auch die Leitkultur verändert. Doch allein der Gedanke, Einwanderer mit der vorherrschenden Leitkultur zu konfrontieren, erscheint manchen als nicht auszuhaltender Ausdruck eurozentrischer Arroganz. Zu Unrecht, wie ich finde. Arrogant wäre es, eine Kenntnis der fremden Kultur vorzutäuschen, indem man sie im Voraus für gut befindet. Nichts schadet der Integration mehr! Dann muss jeder Kontakt zwischen gesellschaftlichen Minderheiten und der Mehrheit verhindert werden, um niemanden zu desillusionieren. So manifestieren sich gerade die Milieus, von denen Kritiker der Leitkultur so gerne sprechen. Die Fragmentierung der Gesellschaft wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wie wir über eine Leitkultur sprechen müssen Wenn man die Existenz einer Leitkultur akzeptiert und ihre Nützlichkeit für die Integration und die Demokratie anerkennt, bleibt ein letzter Vorbehalt. Der letzte Abschnitt setzt voraus, dass in einem Aufeinanderprallen der kulturellen Praktiken Kritik aneinander nötig sein wird. Das bedeutet, von zahlenmäßig unterlegenen Gruppen infrage gestellt zu werden und selbst Fremdes infrage zu stellen. Aus historischen Gründen sind wir Deutschen darin nicht gut. Sind die kulturellen Wertvorstellungen von Einwanderern nicht untrennbar an ihre Identität geknüpft? Kritisiert man nicht immer auch die Person, wenn man ihre Kultur kritisiert? Und besonders heikel: Darf man eine andere Kultur als „schlechter“ und eben nicht nur als „anders“ empfinden? Die Bewertung kultureller Praktiken ist eine unbedingte Voraussetzung für den ehrlichen Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden. Nur so entsteht ein freier Austausch von kulturellen Ideen, der gesellschaftlichen Fortschritt bringt. Auch unsere Kultur spiegelt oft nicht unsere Ideale wider. Doch ohne Kritik wären das Frauenwahlrecht, die Sanktionierung von Vergewaltigung in der Ehe und die Gleichstellung von Homosexuellen niemals verwirklicht worden. Jeder dieser Fortschritte ließ den „schlechten“ Status quo hinter sich, entwickelte die herrschende Leitkultur weiter und stellte die auf Dominanz basierenden Identitäten „weißer, heterosexueller Männer“ infrage. Wir dürfen vor Werturteilen nicht zurückschrecken und wir müssen nicht jede fremde Kulturpraxis gut finden. Vielmehr ist das Leben in einer liberal-demokratischen Gesellschaft mit Risiken behaftet: Ideen haben hier keine Überlebensgarantie. Sie müssen erst ihren Nutzen für unser Miteinander unter Beweis stellen. Anders als oft propagiert wird, ist ein Werturteil über kulturelle Leitmotive mit einer allgemeinen und gleichen Menschenwürde vereinbar. Wenn wir zu unserer Leitkultur stehen und gleichzeitig nicht über Ethnien und Rassen urteilen, dann beweisen wir als Gesellschaft bewundernswerte Aufgeklärtheit. Vielleicht geht allein daraus eine neue Leitkultur hervor, die uns Deutschen besser behagt und auf die wir vielleicht sogar stolz sind. Diesen Text habe ich beim Essaywettbewerb der Deutschen Gesellschaft e.V. im Jahr 2017 eingereicht und den 1. Platz belegt.
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„Gott ist tot“, proklamierte Friedrich Nietzsche schon im 19. Jahrhundert.[1] Dieser Satz geht heute leichter denn je über die Lippen, da sich Bürger westlicher Industriestaaten zusehends vom religiösen Glauben distanzieren. Der sonntägliche Gottesdienst ist längst kein Muss mehr, Weihnachten feiert man nur noch wegen der schönen Stimmung und die christliche Sexualmoral gehört aus Sicht der meisten ins ideengeschichtliche Kuriositätenkabinett.
Wir sind heute dankbar für die Epoche der Aufklärung, in der Philosophen wie Kant, Voltaire oder Rousseau uns den Weg aus dem dunklen Labyrinth der christlichen Dogmen gewiesen haben. Auch Herrschaft legitimiert sich in westlichen Demokratien nur noch säkular, also ohne Rückgriff auf religiöse Glaubensüberzeugungen. Beispielsweise stützt die Bundeskanzlerin ihre Macht nicht mehr auf das Gottesgnadentum, sondern ist von der Zustimmung des Volkes abhängig. Die Bürger aber bewerten den Erfolg einer Regierung auf Basis säkularer Gerechtigkeitsprinzipien. Würden Politiker im Bundestag heute Psalmen zitieren, um einen strittigen Gesetzesentwurf zu begründen, so hätte das wohl ihr politisches Karriereende zufolge. In der heutigen Gesellschaft spielen religiöse Überzeugungen für den politischen Prozess schlichtweg keine Rolle mehr. Umso verwunderlicher scheint es, dass sich ein bedeutender Philosoph wie Jürgen Habermas wieder mit dem Thema der Religion auseinandersetzt. Für ihn sind Religionen Quellen der Moral und Sittlichkeit, die es in einer Gesellschaft zu erhalten gilt. Aus diesem Grund will er gläubige Bürger, die ihre politischen Ansichten religiös verteidigen, in den demokratischen Willensbildungsprozess mit einbeziehen. Das will er erreichen, indem die religiösen Redebeiträge in einem kooperativen Übersetzungsprozess zwischen gläubigen und säkularen Bürgern in allgemeinverständliche Sprache übertragen werden. Es wird sich zeigen, dass mit diesem Aushandlungsprozess weder religiöse noch säkulare Bürger wirklich zufrieden sein können. Habermas‘ Interesse an Glaubenslehren entfaltet sich vor dem Hintergrund eines philosophischen Problems der liberalen (d.h. freiheitlichen) Demokratie und gewissen Beobachtungen, die er in der Gesellschaft macht. Das philosophische Problem liegt in der Natur der Staatsform und ist damit sozusagen in die DNA der liberalen Demokratie eingebaut. Sie ist nämlich, anders als autoritäre Regime, auf die freiwillige Mitarbeit ihrer Bürger angewiesen. In dem Moment, in dem der Staat seine Bürger zur Wahl verpflichtet, verliert er seine Freiheitlichkeit. Da der Staat weiterhin keine staatstreuen Einstellungen in seiner Bürgerschaft erzwingen darf, muss sich Solidarität zwischen den Menschen aus deren eigenem Antrieb entwickeln. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dieses Dilemma schon früh wie folgt auf den Punkt gebracht: “Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Als freiheitlicher Staat kann er [...] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.”[2] Das bedeutet in anderen Worten, dass die Demokratie auf dem feinstofflichen, nicht erzwingbaren Fundament staatsbürgerlicher Solidarität beruht. In Zeiten, in denen Marktmechanismen in immer mehr Lebensbereiche vordringen und ein überindividualistischer Zeitgeist zur Norm geworden ist, fragt Habermas nach den einenden Quellen der Gesellschaft. Im Wissen um die herausragende Rolle des Christentums für die Entstehung der westlichen Denkweise bemüht er sich in seinem philosophischen Entwurf, religiöse Bürger nicht vom politischen Prozess auszugrenzen. Das sei allein schon deshalb wichtig, weil religiöse Bürger auch Staatsbürger sind. Ein Staat, der die Religionsfreiheit garantiert, dürfe seinen Gläubigen nicht verwehren, sich im öffentlichen Diskurs religiös zu äußern. Immerhin beziehe der Gläubige seine politische Existenz aufrichtig aus seinem Glauben, könne also nicht zu einem „Umschalten“ in einen säkularen Modus gezwungen werden.[3] Obendrein vermutet Habermas ein sinnstiftendes Potential der Glaubensgemeinschaften für die ganze Gesellschaft, das nicht verloren gehen dürfe. Damit stellt er religiöse Überzeugungen nicht über säkulares Wissen, sondern weist auf die Besonderheiten religiöser Semantik hin. In ihr bleibe nämlich eine Ausdrucksweise für die moralisch schwierigen Fragen des Menschseins erhalten. Egal, ob in religiösem Vokabular nun das gute bzw. verfehlte Leben diskutiert wird oder gesellschaftliche Missstände aufgezeigt werden: die Religionen haben in ihrer jeweiligen Kultur einen Umgangston erhalten, der durch durch das „professionelle Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann“.[4] “So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen.”[5] Habermas stellt die Frage, wie dieses moralische Potential erhalten und für die ganze Gesellschaft nutzbar gemacht werden kann. Er fordert dazu von Gläubigen und Nichtgläubigen, sich an einem kooperativen Übersetzungsprozess zu beteiligen, an dessen Ende allgemeinverständliche, weil säkulare, Argumente stehen.[6] Habermas geht davon aus, dass diese Übertragung in der Vergangenheit schon gelungen ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, ein säkulares Gerechtigkeitsprinzip, unterstützen Christen auf Basis der menschlichen Gottesebenbildlichkeit, einem religiösen Prinzip. Daraus leitet er ab, dass Gläubige ihre tiefsten Überzeugungen auch in säkularen Vorstellungen wiederfinden können. Mit diesem Vorschlag ist jedoch weder die religiöse noch die säkulare Seite zufrieden. Aus religiöser Sicht ist es falsch, den Glauben für staatliche Zwecke zu instrumentalisieren. Der Religionsphilosoph Michael Reder interpretiert Habermas Vorhaben so als würden Glaubenslehren benutzt, um den säkularen Verfassungsstaat motivational zu unterfüttern. Diese Funktionalisierung der Religion, die sie auf eine Quelle der Moral reduziert, lehnt Reder ab. Dabei verweist er auf die umfassende Rolle, die die Religion im Leben der Gläubigen spielt. “Die Gestaltung kulturellen Lebens, die Verarbeitung von Kontingenz oder die Thematisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz sind weitere Funktionen von Religionen - erst in der Zusammenschau ergibt sich ein detailliertes Bild ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.”[7] Aus theistischer Perspektive bestehen also gewisse Erwartungen bezüglich der Wahrnehmung der Religion durch Außenstehende. Aus dem Wunsch, den Glauben in seinem Facettenreichtum erkannt zu wissen, spricht insbesondere auch die Forderung nach Anerkennung durch die Mitbürger. Aus säkularer Sicht wehrt man sich gegen die Unterstellung, Religionen lieferten “Bedeutungspotentiale” für die ganze Gesellschaft, also gleichermaßen für gläubige und säkulare Bürger. Ebenso wie dem religiösen Bürger zuzuschreiben ist, seine Existenz speise sich aus dem Glauben, sind ähnliche Zurechnungen auch auf säkularer Seite nötig. Der säkulare Bürger glaubt aufrichtig nicht an Gott bzw. enthält sich einer Positionierung. Spiegelbildlich zum Gläubigen lebt er aus einer umfassenden, oft naturwissenschaftlich geprägten Grundhaltung. Aus diesem Grund ergibt sich automatisch eine nüchterne Einstellung gegenüber dem Offenbarungswissen heiliger Schriften. Zwar stimmt der Atheist bzw. Agnostiker zu, dass in den heiligen Schriften der Weltreligionen Ansichten über das gute Leben und moralische Werte versammelt sind. Doch bleiben diese Inhalte für ihn Geschichten, die anderen Erzählungen in keiner Weise überlegen sind. Versteht ein säkularer Bürger diese Inhalte als überspitzte Moralisierung, ist das aus seinem Weltbild heraus legitim. Für ihn sind religiöse Lehren Verhaltenskodizes, die in der fernen Vergangenheit zur gesellschaftlichen Ordnung beitrugen. Dass diese Ordnung durch Androhung göttlicher Strafen im Dies- oder Jenseits erzwungen wurde, sieht er als Zeichen für die zivilisatorische Rückständigkeit jener Zeit an, in der es noch kein komplexes Rechtssystem gab. Aus dieser Haltung folgt, dass für ihn religiöse Bilder gegenüber säkularen Metaphern nicht automatisch überlegen sind. Habermas spricht selbst von einem “opaken Kern der religiösen Erfahrung”, der sich von säkularer Vernunft nicht erschließen lässt. Säkulare Bürger seien also nicht in der Lage, zum Kern einer religiösen Lebenserfahrung vorzudringen, da diese entscheidend durch eine emotionale Verbindung mit einem höheren Sein geprägt sei. Diese Einsicht auf epistemischer Ebene begründet einen berechtigten Zweifel am Inspirationspotential, das Glaubenslehren für säkulare Bürger bereithalten. Aufgrund der Skepsis gegenüber Habermas‘ Vorschlag ist die kooperative Übersetzung als Konzept abzulehnen. Dafür sorgen insbesondere die Zugeständnisse, die an die religiösen Bürger gemacht werden. Sie dürfen ihre Redebeiträge in rein religiöser Sprache geben, so dass die Verantwortung zur Übersetzung auf Seiten der säkularen Bürger liegt. Das birgt eine große Gefahr für die bürgerliche Solidarität, die Habermas durch seinen Vorschlag eigentlich schützen möchte. Bürgerliche Solidarität äußert sich insbesondere darin, eigene Redebeiträge für andere anschlussfähig zu halten. Wenn Gläubige mit nur ihnen bekannten Bibel- oder Koranstellen argumentieren, so wird kein gesellschaftlicher Diskurs über politische Herausforderungen zustande kommen. Wenn das säkulare Gegenüber das Gefühl bekommt, in einer Auseinandersetzung den ganzen diskursiven Weg zum kompromisslosen Mitbürger zurücklegen zu müssen, endet das in Frustration. Ein stures Beharren auf religiösen Dogmen ist deshalb fundamentalistisch und somit schädlich für die demokratische Gesellschaft. Religiöse Argumente, die nicht mit säkularem Wissen verknüpft werden, für andere Bürger nicht anschlussfähig sind, sind ähnlich verantwortungslos wie säkular-dogmatische Redebeiträge. Vermutet man hinter jeder politischen Entscheidung die Machenschaften der CIA, der Pharmaindustrie oder einer wie auch immer gearteten jüdischen Weltverschwörung, so tötet man den demokratischen Diskurs, bevor er begonnen hat. Aus diesem Grund ist von normativen Geboten zur kooperativen Übersetzung abzusehen. Was dem solidarischen Miteinander hilft, sind die philosophischen Grundlagen, die Habermas für die kooperative Übersetzung legt. Habermas fordert die säkulare Seite auf, ein nachmetaphysisches Denken auszuprägen, welches die Anerkennung der religiösen Rationalität ermöglicht. Dabei bezieht er sich besonders auf die wichtige Rolle, die der christliche Glaube in der Entstehung des Liberalismus und der modernen Menschenrechte gespielt hat. Außerdem eignet sich dieses Denken eine bescheidenere epistemische Einstellung gegenüber religiösem Wissen an. “Kurzum, das nachmetaphysische Denken verhält sich zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich. Es besteht auf der Differenz zwischen Glaubensgewissheiten und öffentlich kritisierbaren Geltungsansprüchen, enthält sich aber der rationalistischen Anmaßung, selber zu entscheiden, was in den religiösen Lehren vernünftig und was unvernünftig ist.”[8] Säkulare Bürger dürfen nicht dazu gezwungen werden, das Weltbild ihrer religiösen Mitbürger zu bejahen, aber das nachmetaphysische Denken Habermas‘ befähigt sie dazu, es fair zu bewerten. Im Umgang mit dem Fremden sind wir als demokratische, liberale Staatsbürger genau dazu angehalten: Wir sollten uns die Zeit nehmen, dem anderen zuzuhören, wie abwegig uns seine Meinung eingangs auch vorkommt. Denn gerade in den großen Fragen der Menschheit sind wir mit unseren Mitbürgern durch unsere Menschlichkeit und den Zweifel verbunden, was der spätere Papst Joseph Ratzinger wie folgt ausdrückte: „[E]s gibt keine Flucht aus dem Dilemma des Menschseins. Wer der Ungewißheit des Glaubens entfliehen will, wird die Ungewißheit des Unglaubens erfahren müssen, der seinerseits doch nie endgültig gewiß sagen kann, ob nicht doch der Glaube die Wahrheit sei. [...] Vielleicht könnte so gerade der Zweifel, der den einen wie den anderen vor der Verschließung im bloß Eigenen bewahrt, zum Ort der Kommunikation werden.“[9] Und gerade die Kommunikation zwischen rivalisierenden Weltbildern wird in Zeiten der unversöhnlichen politischen Stimmung gebraucht wie nie zuvor. [1] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (München: 1959), S. 166 f. [2] Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehug des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1976, 112. [3] Jürgen Habermas, „Religion in der Öffentlichkeit“ in ders. (Hrsg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2005, 133. [4] Jürgen Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“ in ders. (Hrsg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2005, 115. [5] ebd., 116. [6] ebd., 118. [7] Michael Reder, „Wie weit können Glaube und Vernunft unterschieden werden?“ in Michael Reder und Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 2008, 55. [8] Jürgen Habermas, „Religion in der Öffentlichkeit“, a.a.O., 149. [9] Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis (München: Kösel, 1968), 23 f.. Wabi Sabi Ursprünge und Gegenwart japanischer Ästhetik Die japanische Vorstellung von Schönheit kann nur verstehen, wer sich mit der Denktradition des Zen-Buddhismus auseinandersetzt. Seit dem 12. Jahrhundert in Japan vertreten, prägte er die wichtigsten Ästhetikprinzipien des Landes und findet so mittelbar seinen Eingang in die heutige Populärkultur, die hier exemplarisch anhand von Anime, dem japanischen Zeichentrickfilm, beleuchtet wird. Kenneth Inada, Experte auf dem Gebiet der fernöstlichen Philosophie, illustriert den Unterschied zwischen östlichem und westlichem Denken anhand einer entstehenden Welle am Strand.[1] Ungesehene Kräfte formen aus der faltigen Wasseroberfläche eine einzelne Welle, die nun in Richtung Land schnellt. Sie wird größer, bis sich ein weißer Kamm bildet. Auf dem Höhepunkt ihrer Kraft trifft die Welle auf das Land, kollabiert und verteilt sich als schimmernde Folie über den Sand. In der empirisch-rationalen Tradition des Westens betrachtet der Mensch Naturphänomene und setzt diese in Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Grob vereinfacht heißt das, dass er in einer Welt lebt, die vom Anfassbaren und Beobachtbaren strukturiert wird. In unseren Theorien zwar berücksichtigt, jedoch in ihrer Komplexität stark vereinfacht, sind all die unsichtbaren Phänomene, die zur Erzeugung der Wellen führen. Inada leitet daraus ab, dass wir uns zu „creatures of tangible manifestations“[2] reduziert haben. Wir nehmen die Welt in Dualismen aus Subjekt-Objekt-Beziehungen wahr. Das Subjekt ist im obigen Beispiel ein Beobachter, der am Strand spazieren geht. Das Objekt ist das, was vom Subjekt erfahren und gewusst wird: die Welle. Die vom Buddhismus beeinflusste östliche Philosophie denkt in einem weitaus geringeren Maße in Dichotomien. So fordert der Zen-Buddhismus von seinen Praktizierenden einen Standpunkt, der durch die Merkmale „nicht-eins“ und „nicht-zwei“ beschrieben werden kann. Letzteres bedeutet die Abkehr vom dualistischen Denken, u.a. vom abstrakten Konzept des „Ichs“, was eine Opposition zur Umwelt schaffen würde.[3] Diese Entfremdung soll vom Zen-Schüler durch Meditation und einen gesunden Lebensstil überkommen werden. In der westlichen Rezeption werden buddhistische Lehren aber oft in ein Weltbild eingepasst, das die Entwicklung des Menschen als eine Bewegung hin zu einem vollendeten Zustand interpretiert. Deshalb ist es kein Wunder, dass man in den Buchhandlungen Werke mit Titeln wie „Karmic Management: Erfolg durch Spiritualität“ oder „Die Weisheit des Diamanten: Buddhistische Prinzipien für beruflichen Erfolg und privates Glück“ findet. Anders als in der westlichen Tradition, die in wünschenswerten Endzuständen denkt, soll das Ablassen von egoistischen Zwängen und Ängsten gerade nicht auf einen metaphorischen Thron gehoben werden. In dem Moment, in dem der Mensch seinen Bewusstseinszustand als den einzig richtigen betrachtet, verengt sich sein Blick zu einer partiellen Perspektive auf die Realität, die der Zen-Buddhismus vermeiden will. Die Beschreibung „nicht eins“ weist darauf hin, dass kein einzelner, mit Worten definierbarer Zustand existiert, den man erreichen kann. Perfektion bedeutet vor diesem Hintergrund, dass der Praktizierende eine innere Oszillation zwischen „nicht zwei“ und „nicht eins“, zwischen Dualismus und anti-Dualismus, durchführt.[4] Es ist leicht verständlich, dass diese Mentalität viele Stunden des Meditationstrainings voraussetzt. Für den japanischen Zen-Mönch des 15. Jahrhunderts bedeutet das gleichzeitig die Herausforderung, nicht einzuschlafen. Die Teezeremonie, die vom Gelehrten Shukō im Jahr 1488 formalisiert wird, soll Abhilfe schaffen.[5] Durch die belebende Wirkung des Tees können Mönche länger meditieren. Shukō stellt sich bewusst gegen den zu seiner Zeit vorherrschenden Prunk, der das Teetrinken der Kriegsherren auszeichnet und fordert in seinen Schriften, dass die Teezeremonie zu einem besseren Selbstverständnis und Frieden zwischen den Teilnehmern führen soll.[6][7] Etwa einhundert Jahre später, um das Jahr 1580, fordert der Mönch und Teemeister Sen no Rikyū eine noch striktere Abkehr vom Luxus: “In the small [tea] room, it is desirable for every utensil to be less than adequate. There are those who dislike a piece when it is even slightly damaged; such an attitude shows a complete lack of comprehension.”[8]. Die Tradition des Tees bildet fortan den Schauplatz für die Enstehung des Prinzips, welches bis heute repräsentativ für japanische Ästhetik ist: wabi sabi. Der Begriff umfasst schlichte Schönheit, die dabei hilft, einen an die Vergänglichkeit, Unfertigkeit und Imperfektion der Realität zu erinnern. Er weist auf die Faszination des Alltäglichen, des Simplen und des von der Zeit Gezeichneten hin. Damit steht er fernab von der Ästhetik der griechischen Tradition, welche auf Symmetrie und Formvollendung Wert legt. Ein alter Tempel, der mit moosüberwachsenem Dach inmitten eines schlichten Gartens thront, entspricht diesem Ästhetikprinzip. Ein Holztisch, dessen Herkunft in seiner rustikal bearbeiteten, von Kerben und Maserungen gezeichneten Oberfläche sichtbar wird, findet ebenfalls das Gefallen des geschulten Auges. Zur Teezeremonie werden Tassen aus Keramik verwendet, die mit ihrer erdfarbenen Schlichtheit und ihren ungeglätteten Kanten den Eindruck erwecken, sie seien vor ihrer Vollendung aus dem Schaffensprozess entwendet worden. Schüsseln, die nach einem Riss sichtbare Reparaturspuren aufweisen, steigern ihren ästhetischen Wert noch. Doch wie entscheidet sich, wann ein Objekt das Prädikat wabi sabi verdient und wann es sich um schlecht produzierte Billigprodukte handelt? Immerhin darf ein Ästhetikprinzip nicht allzu leicht zu realisieren sein. Um die Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Bedeutung der Wörter, die den Begriff ausmachen. Beide Worte änderten im Laufe des Zeit ihre Bedeutungen. Wabi handelt ursprünglich vom Elend, alleine in der Natur überleben zu müssen und von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Sabi hat zunächst eine ähnlich negative Konnotation, denn es beschreibt den frostigen, verwelkten Zustand eines Objekts, um das man sich lange nicht gekümmert hat.[9] Dann, im 13. Und 14. Jahrhundert, ändern sich beide Bedeutungen. Wabi wird fortan verwendet, um die hoffnungsvoll-schmerzhafte Melancholie zu beschreiben, die das Warten auf eine geliebte Person begleitet.[10] Sabi steht zunehmend für die Erhabenheit, die abgenutzte Gegenstände dadurch bekommen, dass sie unter der angesetzten Patina eine zeitlose Schönheit erkennen lassen.[11] Das Kunstobjekt soll allein durch seinen Zustand eine Geschichte erzählen davon, dass es nicht immer existiert hat und eines Tages aufhören wird zu existieren. Ein Objekt oder eine Szenerie verdient das Prädikat wabi sabi also nur, wenn es in uns eine wohltuende Melancholie über die Vergänglichkeit der Dinge hervorrufen kann. Dazu gut geeignet sind Gegenstände, die in einem in Anbetracht der vergangenen Zeit höchst gepflegten Zustand ist. Gebrauchsspuren in der Keramik beispielsweise sollen den Eindruck erwecken, dass sie nur durch eine geduldige, gewissenhafte und respektvollen Umgang mit dem Objekt überhaupt die Zeit hatten, die Teeschüssel zu überziehen. Es reicht nicht, aus einer Porzellantasse ein Stück Material zu schlagen oder diese mutwillig zu zerkratzen. Ein von Hand gekerbter Spanholztisch ist noch keine Kunst. Die Folgen verstrichener Zeit müssen entweder direkt zu sehen sein (wie im Falle des moosüberwachsenen Tempels) oder durch eine künstlerische Meisterleistung in das Material gearbeitet werden. Indem sich der Betrachter mit dieser materialgewordenen Endlichkeit des Seins konfrontiert, findet er zu einer neuen Wertschätzung des gegenwärtigen Moments. Doch nicht nur Hochkultur vermag diese Reflektion auf das eigene Sein in Gang zu setzen. Die japanische Populärkultur bezieht ihre Einflüsse zwar auch aus dem Westen, doch ist sind die traditionellen Ästhetikprinzipien mindestens genau so wichtig. Besonders Anime, der japanische Zeichentrickfilm, spricht alle Altersgruppen an und erfreut sich in den USA und Europa seit Ende der 90er-Jahre großer Beliebtheit. Die Japanische Außenhandelsorganisation (JETRO) schätzt den Markt für Anime in einem Report auf etwa 200 Millionen US-Dollar für das Jahr 2009. Anfang der 00er-Jahre war diese Zahl sogar noch mehr als doppelt so hoch bei 415 Millionen US-Dollar.[12] In etwa diese Zeit fällt auch die deutsche Erstausstrahlung der Serie Cowboy Bebop, welche seitdem zu den meistgefeierten japanischen Serien aller Zeiten gehört und entscheidend zur Popularisierung des Genres im Westen beigetragen hat.[13] Zwar vereint die Serie eine Vielzahl von Einflüssen in sich – der Protagonist Spike Spiegel wird mitunter als Mix aus „Bruce Lee, Clint Eastwood’s “Stranger,” and an L.A. noir detective all rolled into one“[14] beschrieben – doch bietet die Thematik einen für japanische Ästhetikprinzipien typischen Hintergrund. Die Story spielt im Jahre 2071, einer dystopischen Welt, in der die Menschheit das Sonnensystem kolonisiert hat und vielerorts Gesetz und Ordnung so abwesend sind wie im Wilden Westen. Spike Spiegel und seine Crew, bestehend aus dem ehemaligen Polizisten Jet, der dauernd gelangweilten Betrügerin Faye und einem rothaarigen Mädchen namens Edward, manövrieren sich mit ihrem Raumschiff Bebop durch die Galaxis, um als Kopfgeldjäger zu arbeiten. Den Rahmen der 26 Episoden umfassenden Serie bilden die Hintergrundgeschichten der Charaktere, wobei erwartungsgemäß die von Spike Spiegel die wichtigste ist. Spike ist ein ehemaliges Mitglied des „Red Dragon-Syndikats“, wobei er sich in Julia, die Freundin seines Kameraden und Mitstreiters, verliebt. Als die beiden zusammen fliehen wollen, taucht sie nicht am Treffpunkt auf und bricht Spike das Herz. Die Ästhetik dieser Szene liegt in der gekonnten Umsetzung des wabi sabi Prinzips. Im Hintergrund singt ein Mädchenchor, während Spike im Regen wartend an einer Hauswand steht, Zigarette im Mund und Rosen in der Hand. Der Himmel ist von dunklen Wolken verhangen, so dass das blau-graue Licht dem Straßenzug eine homogene Eintönigkeit überzieht. Abwechselnd damit werden Szenen aus Julias und Spikes gemeinsamer Vergangenheit gezeigt, die in einen wärmeren Sepiaton getaucht sind. Den Zuschauer überkommt das Gefühl von Melancholie, weil ihm die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit vor Augen geführt wird. Die grau-blauen Ausschnitte repräsentieren dabei das wabi – die Melancholie der Einsamkeit. Die sepia-gefärbten Szenen tragen die Eigenschaften des sabi-Prinzips in sich. Spikes Beziehung zu Julia ist endgültig vergangen. Es zieht einem die Brust zusammen, weil man spürt, dass sie die einzige Person war, die dem Einzelgänger je etwas bedeutet hat. Hier wird deutlich, dass der Protagonist nichts tun kann, um ein für glückliches Ende herbeizuführen. Der Liebe seines Lebens beraubt und auf der Flucht vor seinen ehemaligen Kollegen, führt Spike fortan ein rastloses Leben auf der Bebop. In der Tretmühle des Kopfgeldjägergeschäfts kann er so viel Erfolg haben, wie er will – die Frau seines Lebens gewinnt er nicht zurück. Das ist es, was jegliche Bemühungen in seinen Händen zu Staub zerfallen lässt. Der besondere ästhetische Reiz der Serie liegt nicht darin, Spike Spiegel beim Scheitern zuzuschauen. Vielmehr hilft sie einem dabei, mit den unmöglichen Kämpfen im eigenen Leben zurecht zu kommen. Allen voran mit der eigenen Sterblichkeit. Darin liegt der buddhistische Einfluss, der es über den „Umweg“ der Ästhetikprinzipien in die japanische Popkultur geschafft hat. Ein Dialog zwischen Spike und Faye, kurz vor seinem alles entscheidenden Kampf mit seinem ältesten Widersacher Vicious. “Faye: Why do you have to go? Where are you going? What are you going to do? Just throw your life away, like it was nothing? Spike: I’m not going there to die. I’m going to find out if I’m really alive.“[15] Der Protagonist bemerkt zu diesem Zeitpunkt schon, dass all seine Bemühungen vergeblich waren. Dass er bei dem Versuch, die Verantwortlichen für den Verlust Julias zu besiegen, sehr warhscheinlich sterben wird, ängstigt ihn nicht. Er hat akzeptiert, dass das Leben ein Strom aus Momenten ist, in denen der Mensch wie in einem reißenden Fluss zwar seine Position durch Anstrengung verändern kann, die Destination des Todes aber trotzdem unausweichlich ist. Die Ästhetikprinzipien wabi und sabi bieten einen Schlüssel zu japanischer Kultur, mit dem gerade auch die japanische Popkultur besser verstanden werden kann. Cowboy Bebop ist nur ein Beispiel unter vielen, bei dem die Melancholie zum Stilmittel erhoben wird, wabi sabi seine Anwendung findet, und der Zuschauer in letzter Instanz durch Konsum mit einigen der ältesten Lehren des Zen-Buddhismus konfrontiert wird. Oft verzweifeln wir an unserer eigenen Imperfektion, fühlen uns inadäquat und machtlos in Anbetracht unserer eigenen Vergänglichkeit. Nichts ist von Dauer. Unsere Existenz gleicht der einer Kirschblüte: der Höhepunkt ihrer Schönheit leitet im selben Moment ihren Niedergang ein. Unsere Bemühungen, uns am Leben zu halten, müssen fruchtlos bleiben. Wabi sabi lehrt uns, die Schönheit dieser fragilen Realität schätzen zu lernen. Es legt uns nahe, nicht das Außerordentliche, Pompöse oder Perfekte zu suchen, sondern das Abgenutzte, Fehlerhafte und Bescheidene. In Zeiten, in denen vom Individuum Verantwortung für die eigene Glückseligkeit, Proaktivität und Selbstoptimierung gefordert wird, ist wabi sabi uns allen ein Mahnmal, mit unseren Schwächen und Fehlern Frieden zu schließen. [1] Inada, Kenneth K., “The Buddhist Aesthetic nature: A challenge to rationalism and empiricism” in Asian Philosophy (1994), 139. [2]Ibid. [3] Nagatomo, Shigenori, "Japanese Zen Buddhist Philosophy" in The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.), http://plato.stanford.edu/archives/spr2016/entries/japanese-zen/ (27.04.16). [4] Ibid. [5] The School of Life, “Wabi Sabi”, https://www.youtube.com/watch?v=QmHLYhxYVjA (28.04.16). [6] Ibid. [7] http://www.urasenke.org/tradition/, (28.04.16) [8] Hirota, Dennis, in Wind in the Pines: Classic Writings of the Way of Tea as a Buddhist Path, Fremont: Asian Humanities Press, 1995. [9] Ibid. [10] Lawrence, Robyn G., “The Wabi-Sabi House: The Japanese Art of Imperfect Beauty” (Clarkson Potter, 2004), http://nobleharbor.com/tea/chado/WhatIsWabi-Sabi.htm (28.04.16) [11] The School of Life, “Wabi Sabi”, https://www.youtube.com/watch?v=QmHLYhxYVjA (28.04.16). [12]Anime News Network, “America’s 2009 Anime Market Pegged at US$2.741 Billion”, https://www.animenewsnetwork.com/news/2011-04-15/america-2009-anime-market-pegged-at-us$2.741-billion, (29.04.16) [13] Alex Suskind, “Asteroid Blues: The lasting Legacy of Cowboy Bebop”, in The Atlantic, http://www.theatlantic.com/entertainment/archive/2014/12/asteroid-blues-the-lasting-legacy-of-cowboy-bebop/383817/ (15.04.2016). [14]Ibid. [15] Cowboy Bebop, Episode 26, “Die letzte Mission“, Hajime Yatate, 1999. |
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